Walter Zschokke
TYPEN ZUM HINFINDEN
Zur den „Planobjekten“ von Karl-Heinz Klopf
Wir versuchen einem Ortsfremden, der nach dem Weg gefragt hat, zu erklären, wie er dort hin findet, wonach er uns gefragt hat; oder wir erläutern im Verlauf eines Gesprächs einem Bekannten den etwas komplizierten, durch einen Hof führenden Zugang zu unserer neuen Wohnung-, oder wir weisen einen Freund, der nach Paris fliegen wird, auf ein ausgezeichnetes Speiselokal in der Nähe der Place de la Bastille hin; in allen Fällen wird dem anderen erleichtert, den gesuchten Ort zu finden, wenn wir ihm eine einfache Planskizze anfertigen. Gezeichnet wird auf das, was zur Verfügung steht, auf Briefkuverts, Papierservietten, Pappdeckel. Die verwendete Zeichensprache ist leicht verständlich: Gebäudevolumen sind eingerahmt und schraffiert, Bäume werden als Kreise dargestellt, Gehsteigkanten und Straßenbegrenzungen sind mit Linien angegeben. Nahezu jeder, der gefragt hat und sein Ziel erreichen will, wird diese grafischen Abstraktionen verstehen und die Planskizze anzuwenden wissen. Aus der Erinnerung gezeichnet, sind diese Zeichnungen massstabslos. Mögliche Vergleichswerte bilden die Bäume und Straßenbreiten, aber für eingezeichnete Distanzen gibt es keine Gewähr. Man muss auf Merkpunkte achten, auf Gebäudeecken und -vorsprünge, auf Einfahrten und Bäume. Es sind Skizzen zum kurzen Zweck, kleine Gedankenstützen, Selbstversicherungen auch, dass man den Weg richtig erklärt hat.
Karl-Heinz Klopf hat seine Erinnerung an Orte, an Stationen in seinem Leben in der nämlichen Zeichensprache festgehalten. Seine Signaturen sind weiß auf dunkel gemalt, mit strähnigem Pinselstrich über abnehmbarer Folienschablone, sodass die Ränder trotzdem scharf hervortreten. Anders als für die oben genannten Skizzen bildet das Weiß die Figuren, bedeutet hell „Volumen“ und dunkel „Umraum“. Es handelt sich dabei um einen „Negativplan“, das Umkehrbild des im Städtebau gebräuchlichen Schwarzplans.
Es sind die Bäume bezeichnenden Kreisscheiben, die verhindern, dass die Figur-Grundwirkung kippt, dass wir nicht einen von dunklen Gebäuden umstandenen weißen Hof zu erblicken vermeinen, wo das Gebäude weiß und das Umfeld dunkel ist. Auch jene weißen Linien, die Gehsteigkanten angeben oder Parkfeldabgrenzungen markieren, helfen mit, dass wir den knapp beschnittenen Plan überhaupt als Planskizze erkennen.
Diese Piktogramme räumlicher Erinnerung sind auf kunststoffbeschichtete Planen von grün-grau-brauner Farbe gemalt. Restpastenfarbe, wie mir der Künstler erläuterte. Die Herstellerfirma mischt zum Jahresende alle Farbreste zusammen und erzeugt mit diesem Produkt eine entsprechende Menge Planen, die für Lastwagenverdecke, Zelte usw. Verwendung finden. Ein vernünftiges, sparsames und zweckmäßiges Verfahren. Was dabei herauskommt ist eine Art Tarnfarbe, die, weil sie alle Farben enthält, überall dazugehören könnte: unauffällig, beiläufig, gleichgültig. Ein ideales Trägermaterial, dieses Grün-Grau-Braun; in seiner Beliebigkeit ist es den Briefkuverts, den Servietten und Pappdeckeln vergleichbar. Das Material der Plane stellt für sich betrachtet keinen besonderen Wert dar; es ist ihre gediegene Durchschnittlichkeit, die in einer Zeit extremer Zeichendichten und -intensitäten einen eigenen Wert erlangt.
Das gewohnte Charakterbild derartiger Planen wird aber infolge einer weiteren Maßnahme verlassen. Sie liegen nicht lappig herum mit aufgewellten Rändern, sondern sind über kräftige Rahmen gespannt, sodass sich die Signaturen um die Kanten herumziehen. Wie flache Pakete befinden sich die nun zu Objekten gewordenen Planskizzen zu unseren Füßen, fast wie Spielbretter, die mit Figuren besetzt werden könnten. Aber die Verwendung der Planskizzen als „Verpackungsmaterial“ schiebt sie nun aus dem Fokus der Wahrnehmung heraus zum Rand, lässt sie ein weiteres Mal beiläufig werden. Diese Beiläufigkeit erleichtert entscheidend den lateralen Zugang und das freie Schweifen der Gedanken.
Die flachen Pakete liegen locker geordnet beisammen, jedes ist zu einem Körper, zu „Volumen“ geworden, der Atelierboden dazwischen, aufgeteilt in Gassen und kleine Plätze, wird zu „Hohlraum“. Auf diese Weise bilden die versammelten Orte der Erinnerung einen imaginären Stadtteil; jede raumzeitliche Station ist zu einem Paket gebunden, in dieser Umgebung wird sie zu einem Gebäudeblock in der Stadt der Erinnerung, die Planskizze an der Oberfläche dient, gleich einem Schlagwort auf der Karteikarte, als Hinweis, um im Gedankenflug zum Inhalt hinzufinden.
Für Karl-Heinz Klopf, der – im Gegensatz zu den meisten Betrachtern – die Wirklichkeit hinter den Signaturen kennt und erlebt hat, besteht eine exakte chronologische Ordnung der Orte. Sie korrespondiert mit dem Verlauf seines bisherigen Weges, den Fixpunkten zwischen den Reisen seiner Wanderschaft. Dem unvorbereiteten Betrachter dagegen öffnet die typisierte Darstellung einen Zugang zur eigenen Biographie.
Es sind nicht die zu Signaturen geronnenen Wahrzeichen der Hauptstädte, die als Postkartenbilder eindeutige Zuordnung erlauben würden (und die in anderen Arbeiten von Karl-Heinz Klopf mit weißem Papier kaschiert sind, sodass sie gerade noch knapp erkennbar sind). Vielmehr erstarren die Ausschnitte aus städtischen Wohnquartieren wegen ihrer Alltäglichkeit zu Typen, die auf zahlreiche ähnliche Orte in zahlreichen Städten und zum Teil auch auf Dörfern hinweisen können: der Vierkanter auf flacher Hügelkuppe, das Siedlungshaus im Erweiterungsgebiet der sechziger Jahre, das Eckhaus im gründerzeitlichen Rasterviertel, der Schulbau aus den fünfziger Jahren, der ehemals als Fabrikationsraum genutzte Hoftrakt in einem dicht verbauten Vorstadtbezirk. Es ist nicht die Individualität der Biographien, die hier evoziert wird, sondern deren Verwandtschaft. Die scheinbare Einzigartigkeit des in der Kleinfamilie aufgewachsenen jungen Menschen wird relativiert von der Unschärfe typisierter Darstellung. In der Regel erkennt jeder Betrachter darin einen anderen Ort, aber im Gefühl scheinbaren Wiedererkennens nähern sich die Subjekte an und entdecken im anderen das Gleiche. Umgekehrt erlaubt die Unschärfe der Typen jedem Betrachter die Beschäftigung mit sich selbst und somit die Reflexion seiner Eigen-Art.
Es ist offenbar das Unpräzise, das uns zu tieferem Nachdenken anregt. Derartige Lagepläne, das ist unsere Erfahrung, stehen für einen Ort. Und die gezielte Beiläufigkeit ihrer Darstellung bildet den Humus für das Spezifische, das in unseren Köpfen entstehen kann, wenn wir diese Arbeiten länger betrachten.
Erschienen in: Karl-Heinz Klopf – Planen. Secession, Wien, 1993.