
MC DONNELL ROAD, GARDEN ROAD, COTTON TREE DRIVE
(aus der Serie Streets, 1996–fortlaufend)
2002
C-print, 53 x 80 cm
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Der Ausgangspunkt von Karl-Heinz Klopfs Serie Streets (1996–fortlaufend)  ist seine Faszination für piktogrammartigen Darstellungen von  Straßenzügen in Japan. Aus der typischen Gestaltung derartiger  Standortspläne entwickelte er ein System, bei dem er Gebäude, in denen  er wohnt, öfter besucht oder ausstellt, umkreist und die umliegenden  Straßenzüge skizziert. Daraus fertigt der Künstler Plandarstellungen in  der spezifisch japanischen Typologie und montiert sie auf ein Fenster  des von ihm genutzten Gebäudes, das innerhalb der dargestellten Straßen  liegt. 
Der Ausblick aus dem Fenster bildet mit dem integrierten Plan  das Motiv der jeweiligen Fotoarbeit. Da die Fokussierung auf das  Zeichen am Fenster den Hintergrund unscharf erscheinen lässt, koppelt  die Aufnahme nicht nur mehrere Räume, sondern auch Informationsebenen –  von der exakten Form des Zeichens bis zur unscharfen Ortsangabe –  miteinander.
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Adam Budak
DIE AFFÄREN EINES KARTOGRAFEN
ODER EIN ZIMMER MIT (LABYRINTHISCHER) AUSSICHT
Dem Knaben, der an Karten und Stichen Freude hat,
Scheint das Universum wie sein Verlangen grenzenlos.
Ach! Wie ist die Welt so groß beim Schein der Lampen!
In den Augen der Erinnerung ist die Welt so klein!
Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen
Aus  einer aus mannigfaltigen Kodierungen bestehenden formalen Akrobatik  erwächst ein komplexes Bild: eine sorgfältige Zeichnung der  Nachbarschaft, eine Skizze einer ganz bestimmten Umgebung, in der der  Künstler während einer seiner zahlreichen Reisen und Wanderungen gewohnt  hat. Die räumliche Umgebung vor Ort wird minutiös als Piktogramm  erfasst, in einer alternativen Sprache des Raumes, und als solches in  einer Wohnung, die sich innerhalb des dargestellten Gebiets befindet, an  der Fensterscheibe angebracht. Das fertige Bild ist eine Abfolge von  Überlappungen und Überlagerungen, auf der mittels einer sehr  persönlichen Karte, einem fast abstrakten Beleg für einen realen und  physikalischen Ort, das Verhältnis zwischen dem Innenraum des  Künstlerzimmers und dem Außen des urbanen Raumes verhandelt wird. Das  Bild offenbart eine duale Struktur: Es besteht aus einem fotografischen  Zitat der Wirklichkeit und einer grafischen Aufzeichnung eines aus ihr  ausgewählten Territoriums. Das Fenster bietet eine Aussicht, die einen  Rahmen für einen symbolischen Akt eines visuellen und geistigen  Austausches von Erzählmustern und Handlungssträngen bezeichnet. Hier,  auf seiner transparenten Oberfläche, wird eine Art elementare Geografie  inszeniert, die Performance des Zeichnens einer ganz gewöhnlichen  räumlichen Struktur, die sich unerwartet in ein enigmatisches  Verwirrspiel unheimlichen Ursprungs verwandelt, in die Imitation einer  Karte oder eines Plans, die die Sprache (ortsbezogener) Geografie  missbraucht und sich deren Werkzeuge aneignet, um die Choreografie eines  noch unbekannten und noch kommenden – möglicherweise imaginären –  Ereignisses zu entwickeln.
Karl-Heinz Klopfs Projekt Streets,  das er 1996 nach seiner Rückkehr aus Tokio, in Angriff genommen hat und  welches er noch immer verfolgt, ist ereignishaft: Es birgt das  Potential für ein Ereignis in sich und verspricht auf diese Weise eine  vielschichtige Geschichte. Es ist ein Schlachtplan (oder ein Tatort?),  und die (packende) Erzählung erinnert fast an einen Detektivroman,  manifestiert die Gesamtheit der Beweismittel im Rahmen einer (privaten)  Ermittlung oder einen zufällig aufgezeichneten Bruchteil der Wahrheit,  mit den visuellen Mitteln der Zeichnung erfasst, wie in Greenaways Kontrakt des Zeichners, oder in Form eines (verborgenen) und unerwartet eingefrorenen Fotodetails in Antonionis Blow Up.  Als räumliches Diagramm verbirgt es ein Geheimnis, ein fehlendes Glied  von wahrhaft Hitchcock’schem Suspense, das die Fantasie durch eine  gewisse unwissentliche Verfolgung eines Plots, der in die komplexe  symbolische Sprache eines labyrinthischen und zu einer bestimmten  urbanen Umgebung gehörenden piktogrammatischen Kodes eingeschrieben ist,  anregt und fasziniert. In seiner Analyse des ägyptischen Labyrinths,  wie es von Herodot beschrieben worden ist, bemerkt Hubert Damisch, dass  sich, „jenseits bestimmter räumlicher oder bloß numerischer Grenzen, und  wie klar verständlich und regelmäßig ihr Plan auch sei, jede gebaute  Struktur für vielfältigste Durchquerungen eignet, die selbst  labyrinthisch sind“. Anschließend erinnert er an Benjamin und dessen  Interpretation von Poe und Baudelaire hinsichtlich des Gedankens, dass  „die Wege, die der Stadtmensch, der Mensch der Masse, verfolgt,  evozieren die unlesbare, nicht entzifferbare Gestalt eines Labyrinths,  dessen unterirdische Präsenz das Bild der Stadt umso mehr verwischt,  insofern als diese gleichförmig und ausgedehnt ist“. Damisch richtet  seine Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Fenstern als einer der Blicke  auf sich selbst, die die Stadt eröffnet – ein privilegierter Blick  singulärer, individueller und privater Natur sogar, jener durch den  sowohl die Straße als auch das Labyrinth der Stadt in den Raum  hereinbricht, in dem das Subjekt wohnt. Fenster sind Orte, an denen sich  Innenräume und Außenräume begegnen, wo das Innen auf das Außen trifft,  und fungieren auf diese Weise als „Embleme oder Symbole eines  zirkulierenden Flusses, der physischen, triebhaften Impulse, die für  Großstädte charakteristisch sind, deren Glas nicht in der Lage ist, die  Gewalt des Außen zu filtern“. In Klopfs Projekt werden sie zu Wandtafeln  einer subjektiven Geografie, auf denen das urbane Labyrinth mit all  seiner realen und fiktiven Topografie geistiger und körperlicher  Ereignisse überbelichtet und entziffert wird, dienen aber auch als  (optische) Instrumente gesellschaftlicher Kontrolle und sind  (durchsichtige) Zeugen von auf den Straßen begangenen Verstößen und all  der gesetzlich verbotenen und nicht autorisierten Nutzungen des  öffentlichen Raumes, also wahrhaft Borges’sche Spiegel (urbaner) Rätsel.
In  der Fotoserie des Künstlers jedoch ist die Phantasmagorie des  Rätselhaften und des Außergewöhnlichen fest verflochten mit dem  Gewöhnlichen und Elementaren. Seine Streets sind die Orte des  Durchschnittsmenschen, „eines ganz gewöhnlichen Helden, also von  allgegenwärtigen Figuren, die zu Tausenden und Abertausenden die Straßen  bevölkern“ und denen Michel de Certeau sein Buch L‘Invention du quotidien (1980; 1988 in englischer Übs. als Practice of Everyday Life  erschienen) widmet. Darüber hinaus scheint das Projekt aus einer  räumlichen Praxis heraus entstanden zu sein, die die Sehnsucht danach,  einen Raum zu zähmen mit der wahrhaft Borges’schen Illusion, „das Ganze  zu besitzen“, verbindet auf dem Weg zur Schöpfung eines Wissens jenseits  der Dimension des Örtlichen und des Intimen. Bei der Begegnung mit  Klopfs Fotografien erinnert man sich sowohl an die verwunderliche  Ekstase der Repräsentation, wie sie sich in der Pathologie des Maßstabs  und der Proportionen ausdrückt, die sich in Borges’ Beschreibung eines  perfekten quasi wissenschaftlichen und hypnotischen Versuchs spiegelt,  die Grenzen der Wirklichkeit mit Worten abzustecken, als auch an eine  Krise der Repräsentation, wie sie de Certeau in seinen Studien über das  „Gehen in der Stadt“ analysiert, die mit der Aneignung der Erfahrung,  Manhattan aus dem 110. Stock des ehemaligen World Trade Centers zu  betrachten, beginnt: „Was der Betrachter wahrnimmt, ist eine  geometrische Ekstase am Rande des optischen Zusammenbruchs: eine Welle  der Vertikalen. Die Höhe verwandelt ihn in einen Voyeur, für den die  Welt, von der er besessen war, nun als Text erscheint, der vor seinen  Augen liegt.“ Doch für de Certeau ist diese „gewaltige Texturologie“  bloß eine Fiktion, eine Darstellung, ein optisches Artefakt, das einer  von einem Raumplaner, Stadtplaner oder Kartografen erstellten  naturgetreuen Nachbildung ähnelt. In seiner Kritik der Lust am „Sehen  des Ganzen“, einer Panorama-Stadt als theoretisches visuelles  Simulakrum, wendet er sich den ganz normalen Stadtfachleuten zu: den  Spaziergängern, „deren Körper den guten und schlechten Passagen eines  urbanen Texts folgen, den sie schreiben, ohne ihn aber lesen zu können“.  Da er demnach räumliche Praktiken erkennt, erweitert Michel de Certeau  die Bedeutung des Begriffes des Flanierens. Seine „Rhetorik des Gehens“  ist eine Strategie der Konzentration auf den Alltag und des Fokussierens  auf das Gehen zum Zwecke der Überwindung der funktionalistischen Sicht  der Stadt als Blick von oben. Hier wird das Gehen als eine bestimmte Art  einer „poetischen Geografie“ urbaner Orte wahrgenommen, mit dem Ziel,  „Mikroerzählungen“ zu konstruieren, die eine Verbindung zu dem sich  bewegenden bzw. spazieren gehenden Körper aufweisen. Durch seine  Beschäftigung mit Fragen der Repräsentation und seine Kartierung des  Terrains seines zwischenzeitigen Wohnorts verhandelt Klopf das  symbolische Vokabular einer doppelten Lüge, die man häufig mit der  Ausarbeitung von Landkarten assoziiert. Der (urbane) Miniaturtext  oszilliert zwischen Auslassung und Verfälschung: er synthetisiert und  simplifiziert eine bestimmte gewählte Umgebung, filtert und zensiert sie  folglich durch die Linse seiner eigenen Wahrnehmungsfähigkeit, seiner  Absichten und eines Auswahlverfahrens, manipuliert sie gar, verschiebt  ihre Geometrie und ihre Proportionen gemäß seiner eigenen Zielsetzungen  und Anweisungen. Das auf diese Weise erlangte reduzierte und sublimierte  „transponierte Bild“ wird zu einem autonomen Zeichen, einem Symbol an  der Kreuzung zwischen Realität und Imagination, Information und Fiktion,  im Schatten der Wahrheit und der Illusion von Gesamtheit.
Klopfs Serie Streets  ist ein persönlicher Reisebericht und ein Tagebuch des Gehens, welches  mithilfe eines Alphabets der Piktogramme verfasst ist von denen jedes  einzelne ein autonomes räumliches Gedicht darstellt, das, in einem  Gewebe von Netzwerken und unabhängigen Pfaden, von den Fragmenten von  Bahnen und durch Veränderung von Räumen geformt worden ist. Hier ist das  Gehen ein Raum des Ausdrucks: laut de Certeau ist es derProzess der  Aneignung des topografischen Systems durch den Spaziergänger, doch ist  es auch ein räumliches Ausspielen des Ortes und impliziert Beziehungen  zwischen den unterschiedlichen Positionen, während man sich zwischen den  Orten bewegt. Ähnlich einer Postkarte aus einem fernen Reiseziel tragen  Klopfs Fotografien die (anonyme) Inschrift From/To, was sowohl  auf die Reise- (oder Marsch-) Route hindeutet, der sich der Künstler  gestellt hatte, als auch möglicherweise auf die persönliche Beziehung,  die mit diesem Zeichen der Präsenz und Indiz für einen geografischen  Punkt angesprochen wurde. Es ist eine Art Nachweis für die Existenz  einer Realität, ein grundlegender Aspekt einer Legende, die zusammen mit  der Erinnerung und dem Traum einen symbolischen Mechanismus  konstituiert, der die Topoi einer Stadt oder über eine Stadt  organisiert. Einer Landkarte beigefügt, bietet eine Legende eine  narrative Struktur und verleiht den verwendeten Symbolen und Kodes aus  dem Bereich des geografischen Wissens Bedeutung. Sie ist ein Feld voller  Namen und Symbole, Icons und Farben, die die Oberfläche eines  topografischen Plans bedecken, eine Tafel, auf der alle Geschichten und  alle Information gleichzeitig versteckt und offenbart sind. Klopfs  Fotoserien sind die Sammlungen solcher Legenden und Mythen, die sowohl  an japanische „Adressbücher“ mit deren überlebensgroßem narrativen  Volumen gemahnen, als auch an die Embleme einer minimalen Stilistik, die  vermittels ihrer Spannung zwischen transzendentalem Bestreben und  formaler Einfachheit wirken. Indem sie immer von einem sehr präzise  bestimmten Ort handeln, sind sie auch Sammlungen von Erinnerungen und  Identitäten, Fingerabdrücken subjektiven Raumes und subjektiver Zeit  gleich, Diagramme vergangener Ereignisse sowie flüchtiger Momente, Denk-  und Erfahrungseinheiten, die hier prägende Gegebenheiten bei der  Erzeugung einer räumlichen Organisation des Wissens werden. So sind die  Piktogramme auf die Glasflächen von Fenstern aufgetragen, was sie wieder  mit dem Außen verbindet, aus dem sie kommen und dem sie auch angehören.  Sie manifestieren die Sammlung der Projektionen, Träume und Trugbilder  eines (echten) Raumes, einem geistigen Außen, das der Künstler in seiner  persönlichen Kartografie gezähmt und sich angeeignet hat, erfasst und  in den vertrauten Rahmen eingebettet hat, jenseits aller denkbaren  Vernunft und Kategorisierung. Was wir hier haben, ist ein Katalog ganz  persönlicher Mythologien, eine Erinnerung und ein Traumbuch, das im  Archiv eines hektischen Kartografen lagert.
In seinem Versuch der  Erzeugung eines räumlichen Wissens erfüllt Karl-Heinz Klopf die  mannigfaltige Aufgabe des Geografen und Kartografen. Er zeichnet seine  eigene ganz persönliche Landkarte, die häufig als Modell gekennzeichnet  ist, in dem Symbole für räumliche Phänomene in der „wirklichen“ Welt  stehen. Mit dieser Tätigkeit betritt der Künstler das Terrain  ontologischer und epistemologischer Fragen hinsichtlich der Fragen, was  die „Realität” eigentlich sei, wie man sie darstellen bzw.  interpretieren oder lesen könne. Hier ist die Landkarte ein ganz  besonderer Text, eine verallgemeinerte Darstellung der Wirklichkeit, und  befasst sich als solche laut Arthur H. Robinson mit vier Elementen  (Vereinfachung, Klassifizierung, Symbolisierung und Induktion), die  seine BenutzerInnen mit den räumlichen Informationen und Daten  versorgen. Jacques Bertin, der eine Theorie der grafischen Semiologie  aufgestellt hat, erarbeitet die Schemata für die Nutzung grafischer  Symbolisierung, die den beiden Hauptfunktionen einer Landkarte dient:  als Visualisierungstool und als Kommunikationsmittel. Diesen Zwecken  wird mit drei Kategorien von Symbolen Rechnung getragen: Punkt, Linie  und Fläche. Diese sind verantwortlich für die Hierarchie der Objekte  untereinander, die Maße, Maßstäbe, Dichten und alle anderen Parameter,  die der Kartograf in seiner akribischen Beschäftigung mit der  Darstellung der Welt ordnet und folglich bei seiner Aufgabe „die Welt zu  zeichnen“ anwendet. Wenn man seine Etymologie betrachtet, bedeutete geo graphein  im Griechischen das Zeichnen (oder Schreiben) der Welt; Geografie ist  die Geschichte einer Linie – und als solche nichts anderes als das  Zeichnen und Interpretieren einer Linie. Klopf zeichnet eine Linie,  während er durch die Straßen flaniert, die eine Zeit lang seine  Nachbarschaft umfassen und bilden und entwirft auf diese Weise lineare  Architekturen von ganz besonderer Sorgfalt, Präzision und Eleganz.  Allein das Wort „Linie“ hat, wie Roland Barthes am Anfang von Reich der Zeichen  betont, zwei Bedeutungen, eine grafische und eine sprachliche. Grafik  und Sprache sind untrennbar mit dem Schreiben verbunden und stellen  folglich eine ganz besondere Ausdrucksform von gleichzeitig verbaler und  nonverbaler Natur dar. In den Worten von Gilles Deleuze und Felix  Guattari „bestehen wir aus Linien [...] oder vielmehr, aus Bündeln von  Linien, denn jede ist mehrfach“, und es ist unsere Aufgabe, unsere  eigenen Fluchtlinien zu erfinden und sie in unserem Leben effektiv,  jedoch subtil zu zeichnen. In Abhängigkeit vom Individuum oder seiner  Gattung stellen Linien die Matrix menschlicher Navigation dar und  beschreiben die Bahnen unseres Handelns. Die Autoren entsinnen sich der  Studien von Fernand Deligny, der mithilfe von Land-karten, auf denen das  Gehen, aber auch Wahrnehmungen, Gesten und Sprache durch  „Abweichungslinien“ und „Gewohnheitslinien“ strukturiert sind, die  Linien und Wege von autistischen Kindern transkribiert. Diese Linien  stoßen ständig aufeinander, überkreuzen sich für einen Augenblick,  verfolgen einander und drücken auf diese Weise eine gewisse Dynamik  jener kartografischen Affäre aus, aus der unsere Landkarte besteht:  Dergestalt ist das Rhizom, das bald der geometrische Ort der Sprache  wird, ein Signifikant und eine Struktur, eine weitere labyrinthische  Architektur, ein Rattenbau, der einen Körper ohne Organe („selbst eine  abstrakte Linie mit weder imaginären Figuren noch symbolischen  Funktionen“) darstellt. Was ist dein Körper ohne Organe? – Deleuze und  Guattari untersuchen – „was sind deine Linien? Welche Landkarte bist du  dabei zu erstellen oder neu zu gestalten? Welche abstrakte Linie wirst  du ziehen, und zu welchem Preis, für dich und für andere? Was ist deine  Fluchtlinie? Was ist dein Körper ohne Organe, der mit dieser Linie  verschmolzen ist? Brichst du zusammen? Wirst du durchdrehen?  Deterritorialisierst du? Welcher Linie dienst du, und welche erweiterst  du oder nimmst du wieder auf?“ Bestehend aus sich gabelnden Linien und  Krümmungen sind Klopfs Piktogramme subjektive Rhizome, Deleuze’sche  Landkarten, die sowohl am Experimentieren mit dem Realen als auch an der  Konstruktion des Unbewussten beteiligt sind und sich durch  Potentialität und Flexibilität auszeichnen: „Die Karte ist in all ihren  Dimensionen offen und anschlussfähig; sie ist abtrennbar, umkehrbar und  kann ständig verändert werden. Man kann sie zerreißen, umdrehen, an jede  Art von Montage anpassen. Sie kann von einem Individuum, einer Gruppe  oder einer sozialen Formation überarbeitet werden. Man kann sie auf eine  Wand zeichnen, als Kunstwerk begreifen, als politische Aktion oder als  Meditation konstruieren.“ Hier liegt ein Wörterbuch der Strategien und  Taktiken vor, ein Aufgebot an Verfahrensweisen, ein Garant für  psychische Annehmlichkeit und Sicherheit, doch andererseits eine Angst,  im Netzwerk der sich kreuzenden Linien verloren zu gehen, in einem  Labyrinth multipler Eingänge in eine Sackgasse zu geraten oder Linien zu  verfolgen, die sich niemals treffen ...
In Karl-Heinz Klopfs  Fotoserie ist die Kennzeichnung oder Verfolgung eines Raumes verflochten  mit einer Sehnsucht, Zeit festzuhalten. Sein From/To bezeichnet  eine räumliche Beziehung, doch befasst es sich in gleichem Maße mit  einer bestimmten Dauer, einem Zeitfluss. Jede einzelne Karte oder  Zeichnung ist in gleichem Maße Zeugnis eines bestimmten Raumes wie ein  Kalender der Reisen und Spaziergänge, gewissermaßen ein Reisetagebuch  des Aufbrechens und des Ankommens. Sie dokumentiert eine Präsenz auf  eine ähnliche Weise wie On Kawaras „Datumsbilder“ oder dessen  „Postkarten“, die darauf abzielen, (persönliche) Zeit zu visualisieren  und das Leben zu erfassen; oder Roman Opalkas malerische, fotografische  oder tonale „Rituale“, während derer der Künstler fast buchstäblich den  vorübergehenden Augenblick einfängt, indem er die Zahlen einschreibt und  „ausspricht” und gleichzeitig in einer Serie von fotografischen  Selbstporträts eine Landkarte der Zeit zeichnet. Klopfs Präsenz ist in  erster Linie eine räumliche und reflektiert als solche, wie Gedächtnis  und Erinnerung, Verlangen und Trennung funktionieren, doch nicht zuletzt  offenbart sie eine Konstruktion privater Geschichte(n) und Affären –  zwischen Hypothesen und Tatsachen, Wahrheit und Fiktion – in einem  anhaltenden Prozess der
Übersetzung in eine überall vorhandene Sprache des kollektiven Bewusstseins.
Verwendete Literatur
Barthes, Roland. Empire of Signs. New York: Hill & Wang, 1983.
Berg, Stephan; Engler, Martin (Hrsg.). Die Sehnsucht des Kartografen. Hamburg: Kunstverein Hannover, 2004.
Bertin, Jacques. La Sémiologie graphique. Paris: Mouton, 1967.
Damisch, Hubert. Skyline. The Narcissistic City. Palo Alto: Stanford University Press, 2001.
de Certeau, Michel. The Practice of Everyday Life. Berkeley: University of California Press, 1988.
Deleuze, Gilles; Guattari, Felix. A Thousand Plateaus. Minneapolis: University of Minnesota Press, 1996.